Experten-Interview mit Dr. Jens Schmidt - "Warum mögen schwächelnde Händler den Schutzschirm?" (TextilWirtschaft Nr. 17_2020)

Klingt doch viel besser als Insolvenzverfahren: das Schutzschirmverfahren. "Anders als mit dem I-Wort wird mit dem Schutzschirm Sanierung verbunden", berichtet der Wuppertaler Anwalt und Sanierungsexperte Jens Schmidt. Er hat als Partner von Runkel Rechtsanwälte schon viele Verfahren abgewickelt, zumeist als Sachwalter oder Insolvenzverwalter. Er erklärt, was es mit dem Verfahren auf sich hat, wie es mit den Missbrauch steht und was sich bald ändert.

 

TextilWirtschaft: Herr Schmidt, Galeria Karstadt Kaufhof, Esprit, Hallhuber - täuscht der Eindruck oder kommt das Schutzschirmverfahren durch Corona groß in Mode?
Jens Schmidt: Der Eindruck ist schon korrekt, dieses Verfahren ist sehr beliebt, gerade im Einzelhandel. Durch die genannten Fälle ist das Verfahren in den vergangenen Wochen auch in der Öffentlichkeit sehr viel präsenter geworden.


Warum mögen schwächelnde Händler den Schutzschirm?
Das liegt nicht zuletzt daran, dass in dem Begriff das Wort Insolvenz nicht vorkommt, obwohl es sich um ein Insolvenzverfahren handelt. Inhaltlich sind die Unterschiede zum Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung nicht sehr groß. Es hat eine ganze Menge mit Marketing und Erhalt des Vertrauens zu tun, dass viele Mandanten diese Version als besondere Verfahrensart bevorzugen. Es sieht nach außen einfach besser aus, wenn das böse I-Wort nicht vorkommt. Anders als mit dem I-Wort wird mit dem Schutzschirm Sanierung verbunden.

Der Begriff aber kommt im einschlägigen Paragrafen 270b der Insolvenzordnung gar nicht vor. Welche Agentur hat sich das ausgedacht?
Das war sicherlich keine Agentur. Der Begriff war während des Gesetzgebungsverfahrens immer vorhanden, kommt nur tatsächlich im Gesetzestext nicht vor. Ich bin eigentlich immer ein Gegner von Mogelpackungen. Daher darf nicht der Eindruck vermittelt werden, dass es sich nicht um ein Insolvenzverfahren handelt. Aber für viele Mandanten, gerade aus dem Handel, ist es wichtig, dass dieser Begriff verwendet wird. Und man nicht vom Insolvenz-, sondern vom Restrukturierungsplan sprechen kann. Was juristisch auch korrekt ist.

Aber das Schutzschirmverfahren in Eigenverwaltung bietet dieselben Sanierungswerkzeuge wie das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung?
Der Werkzeugkasten ist identisch. Das Unternehmen bekommt drei Monate lang Löhne und Gehälter von der Bundesanstalt für Arbeit, ist vor dem Zugriff der bisherigen Gläubiger geschützt und erhält wesentliche Sonderkündigungsrechte. Etwa für Mitarbeiterverträge oder langlaufende Verpflichtungen, im Handel also vor allem Mietverträge. So kann man sich von defizitären Filialen trennen, auch wenn die  Verträge noch 10 oder 15 Jahre laufen.

Und Eigentümer und Management können dennoch an Bord bleiben.
Ja, es wird der Unternehmensführung lediglich vom Gericht ein Sachwalter zur Seite gestellt, der darauf achtet, dass alles nach Recht und Gesetz im Sinne der Gläubiger abläuft. Das ist seine primäre Aufgabe. Nicht die eigentliche Sanierung. Um die soll sich weiterhin das Management mit ihren Sanierungsberatern kümmern.

Wie ist denn dann die Hierarchie in solch einer der Chefetage? Muss der Vorsitzende der Geschäftsführung jeden Schritt und jede Überweisung vom Sachwalter abzeichnen lassen?
Nein, das ist nicht notwendig. Die Führung muss sich aber im Innenverhältnis informieren berichten, Grundsatzentscheidungen abstimmen und sich unter Umständen Zahlungen freigeben lassen. Das Verhältnis kann man vielleicht ein wenig mit dem zwischen Vorstand und Aufsichtsrat vergleichen.

Wie groß sind die Teams, die der Sachwalter mitbringt?
Er bringt schon Experten für wichtige Segmente wie Arbeitnehmer, Lieferanten-Management, Kunden oder anderes mit. Bei einem Mittelständler mit 500 oder 600 Mitarbeitern kann das ein Team von fünf oder sechs Experten werden. In großen Fällen wie aktuell Galeria Karstadt Kaufhof oder Esprit sind es sicher deutlich mehr. Aber man ist immer darauf angewiesen, die bisherige Organisation und die Systeme des Unternehmens für die Arbeit zu nutzen. Denn schließlich liegt die zentrale Steuerung des Sanierungsprozesses beim Unternehmen und den Sanierungsberatern.

 

Wie hoch wird die Rechnung?

 

Was kommt am Ende für eine Rechnung dabei heraus? Bei den ganz großen Regelinsolvenzen hört man von dreistelligen Millionensummen.
Das ist sehr schwer pauschal zu sagen. Es hängt immer von der Komplexität des Verfahrens und dem Wert des verwalteten Vermögens ab. Beim angesprochenen Mittelständler mit 600 Arbeitsplätzen dürften die Kosten für den Sachwalter und sein Team sicher sechsstellig, selten auch mal siebenstellig sein. Man muss dabei immer sehen, dass die Teams während dieser Zeit praktisch nichts anderes machen als dieses eine Verfahren.

Lernfrage: Dauert ein Schutzschirmverfahren nun drei Monate oder länger? Es kursieren beide Versionen.
Die erste Phase des Schutzschirmverfahrens dauert in der Tat drei Monate. Am Ende muss der Insolvenzplan vorgelegt sein. Aber Sie brauchen danach in der Regel nochmal drei Monate, um den Insolvenzplan umzusetzen. Eine Verfahrensdauer von sechs bis acht Monaten ist also üblich. Zurzeit wird aber in der Tat diskutiert, die erwähnten drei Monate bis zur Planvorlage unter gewissen Voraussetzungen zu verlängern.

Was steht drin in einem Insolvenzplan?
Das müssen Sie sich so ähnlich vorstellen wie einen Vergleich. Es steht das Sanierungskonzept drin. Hinzu kommen eine Übersicht über das Unternehmen mit Stärken und Schwächen sowie die Quote der Forderungen der Gläubiger – mit ausführlicher Begründung, warum keine andere Lösung zu einer höheren Quote führen würde.

 

Ein Selbstbedienungsverfahren?

 

Einiges im Schutzschirmverfahren klingt ein wenig nach Light-Insolvenz oder Selbstbedienungsverfahren: Das Unternehmen kann etwa seinen eigenen Sachwalter und den Gläubigerausschuss bei Gericht vorschlagen.
Den Eindruck gab es tatsächlich in den Anfangsjahren nach 2012, als sehr viele Schutzschirmverfahren scheiterten oder in eine Regelinsolvenz übergingen. Heute ist das alles sehr viel professioneller geworden. Sowohl die Gerichte, die den Sachwalter bestellen, als auch die Gläubigerausschüsse, die mit ihm zusammenarbeiten und ihre Interessen sicherstellen. Gefälligkeiten wird kann sich ein Sachwalter, der im Anschluss weitere gerichtliche Aufträge bekommen möchte, nicht leisten. In dieser Position müssen vorgeschlagene wir Sachwalter die Hand, die uns nährt, professionell auf Distanz halten. Und wissen, wann wir Fälle stoppen müssen.

Das heißt: Wenn Sie den Eindruck haben, dass der Schuldner Sie quasi für einen Teil der Familie hält, klappen Sie das Buch zu?
Das ist der feine Grat. Einerseits muss man wissen, wann Fälle zu stoppen sind und andererseits muss man auch in einer gewissen Weise zum Team mit dem Management und den Beratern werden – der Sanierung und der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung verpflichtet. Wenn man Nachteile für die Gläubiger erkennt, muss man als Sachwalter aufzeigen und möglicherweise die Eigenverwaltung beenden. Das muss nicht das Ende der Sanierung bedeuten, aber das Ende des Schutzschirmverfahrens. Das dann möglicherweise von einem Regelinsolvenzverfahren abgelöst wird.

 

Friends and Family im Gläubigerausschuss?

 

Kann man sich denn einen kritiklosen Gläubigerausschuss zusammenstellen, der die eigenen Vorstellungen nur abnickt?
Auch dessen Besetzung kann der Schuldner dem Gericht vorschlagen. Ich bin etwa vor einigen Tagen zum Sachwalter eines Automobilzulieferers bestimmt worden. Dort hat mich das Gericht gebeten, die Vorschläge für den Gläubigerausschuss zu überprüfen. Diese Doppelüberprüfung  ist nicht ungewöhnlich. Das zeigt, dass hier eine Art Friends and Family-Besetzung mit ausschließlich wohlwollenden Personen nicht möglich ist. Und bedeutende oder unbequeme Gläubiger nicht einfach herausgehalten werden können.

Wie ist es mit dem Zeitpunkt der Anmeldung? Ich habe aktuell den Eindruck, dass manche Händler, die bereits wissen, dass ein Schutzschirmverfahren kommen muss, den Zeitpunkt möglichst lange herauszögern. Nämlich in Richtung Wiedereröffnung ihrer Läden. Weil dann wieder Geld reinkommt.
Das mag beim einen oder anderen Unternehmen derzeit ein Aspekt sein. Aber eines ist ganz klar: Da tickt sozusagen die Uhr. Sie müssen noch im Zustand der drohenden Zahlungsunfähigkeit sein, Sie müssen also noch zahlen können. Sobald die Kasse leer ist, ist es zu spät für das Schutzschirmverfahren. Dann eröffnet das kein Richter mehr. Und nach vier Wochen Shutdown und den damit einhergehende Umsatzverluste wird es gerade für Mittelständler im Handel immer schwieriger, nur noch drohend zahlungsunfähig zu sein – mit Betonung auf drohend. Bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit sind die Händler dann ein Fall für die Regelinsolvenz mit klassischem Insolvenzverwalter. In der Verbandsarbeit diskutieren wir aus diesem Grund den erleichterten Zugang zum Schutzschirm für Unternehmen.

Definieren Sie doch mal die „bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit“.
Die liegt vor, wenn das Unternehmen aus Mangel an Liquidität den laufenden Verpflichtungen bei Fälligkeit nicht mehr nachkommen kann. Also etwa der Bezahlung der Lieferantenrechnungen oder der Mieten.

 

Missbrauch auf Kosten anderer?

 

Glauben Sie, dass manche Führungskräfte aktuell den Schutzschirm wählen, statt sich intensiv um KfW-Kredite zu kümmern, die sie irgendwann zurückzahlen müssen? Weil sie das Schutzschirmverfahren schuldenfrei beenden? Ist das nicht ein Missbrauch auf Kosten anderer, die die Kosten zu tragen haben?
Schwierige Frage. Es mag den einen oder anderen geben, der aus diesen Gründen sagt: Schutzschirm statt Rettungsschirm! In der Hoffnung, so seine Altlasten bequem loszuwerden. Ich sehe durch Corona aber keinen erhöhten Missbrauch. Wenn die Unternehmensführung schon vor der Beantragung weiß, dass sie einen möglichen KfW-Kredit ohnehin nicht zurückzahlen könnte, und stattdessen dann ein Schutzschirmverfahren anstrebt, dann ist das für mich nicht unlauter, sondern eher verantwortlich. Selbst Trittbrettfahren aus Anlass von Corona ist nicht grundsätzlich gleichzusetzen mit Missbrauch des Verfahrens. Vielleicht war das Unternehmen schon im Jahr zuvor schwer in der Krise, und Corona hat jetzt nur den Entschluss erleichtert.

Sie glauben also an den ehrbaren Kaufmann.
Selbstverständlich ist es immer eine Frage der Redlichkeit und Ehrbarkeit des Schuldners: Nutzt er den Schutz des Schirms nur missbräuchlich aus, etwa um Zeit zu gewinnen oder frühere Verbindlichkeiten abzuschütteln wie Pensionsverpflichtungen oder unattraktive Standorte? Oder nutzt er den Schirm tatsächlich ernsthaft, um vor Forderungen geschützt seine Sanierung fortsetzen zu können und ggf. verpasste Sanierungsmaßnahmen nachzuholen? Da sehe ich aber keine aktuell keine grundsätzliche Veränderung.

 

Früher unter den Schirm?

 

Seit acht Jahren gibt es das  Schutzschirm-Verfahren: Ist dieses Instrument ein Erfolg?
Rechtlich hätte man die Ziele auch mit einem klassischen - schon vorher existierenden - Eigenverwaltungsverfahren den anderen, vorhandenen Insolvenzverfahren erreicht. Aber der Begriff hat sich aus Marketingsicht bewährt. Nach der anstehenden Reform des Insolvenzrechtes wird es das Schutzschirmverfahren  in dieser Form wahrscheinlich nicht mehr geben. Es bleibt die Insolvenz in Eigenverwaltung und die Regelinsolvenz. Aber den Begriff dürfte es weiterhin geben. So mein Eindruck – aufgrund Corona vermutlich erst Recht.

Was ändert sich sonst noch?
Im Rahmen der EU-Harmonisierung soll ein präventiver Restrukturierungsrahmen als neues Instrument eingeführt werden. Konkret bedeutet das, dass dieses Insolvenzverfahren Sanierungsverfahren früher eingreift, um früher sanieren zu können. Dabei soll der Aufwand und die Bedeutung des Gerichtes reduziert werden. Mancher hätte sich ein solches Instrument wahrscheinlich schon vor Corona gewünscht.

Wann kommt das neue Instrument?
Vor Corona war der Gesetzentwurf für den Mai vorgesehen. Nun gibt es Verzögerung. Noch hoffe ich auf die Vorlage eines Entwurfs im Sommer Jetzt glaube ich eher ans Ende dieses Jahres. Anschließend folgt das Gesetzgebungs-Verfahren, das eine Umsetzung bis Mitte 2021 sicherstellen muss.